Meine deutsche Herkunft ?>

Meine deutsche Herkunft

Meine deutsche Herkunft
我的德语渊缘
Von You Xie
Sonntagvormittag sitze ich gewöhnlich nach dem Frühstück im Arbeitszimmer, bevor ich zum Besuch des Gottesdienstes auf die Kirche gehe. Ich starte den Computer und checke meine E-Mails, die eine von einem Freund aus Guangzhou. Der Freund in China hat mich gebeten, einen Beitrag über meinen ehemaligen Lehrer Prof. Huang Yongfan (黄永繁) zu schreiben.
In der E-Mail steht, es war einmal vor langer Zeit an einem Ort Meixian, ganz weit weg von Deutschland ein Herr 豪天立(Georg Emil Autenrieth), der unterrichtete Deutsch und Englisch an der Leyu-Mittelschule. Einer seiner Schüler war Huang Yongfan.
Wer ist dieser Herr Autenrieth? Ich google, ich suche nach ihm, nach seinen Freunden, natürlich auch nach Fakten für diesen Artikel. Google ist gut, Google ist schnell. Und ganz nebenbei bestimmt Google längst, wie Menschen die Welt sehen.
Georg Emil Autenrieth
Ich habe eine Wikipedia-Seite „Georg Emil Autenrieth“ erstellt: Georg Emil Autenrieth wurde am 13. April 1900 in Weilheim an der Teck geboren[1]. Er arbeitete zunächst als Schreinerlehrling in Uhingen. Von 1919 bis 1925 studierte er am Theologischen Seminar in Basel. Nach dem Abschluss des Studiums trat er in das Missionshaus der Basler Mission ein und wurde zum Missionar ordiniert. Er war ein deutscher evangelischer Missionar in China, reiste im Dezember 1926 nach Asien, wo er, zunächst an der Missionsstation Wuhua und Meixian als Missionar tätig war. Während seiner dortigen Amtszeit bis September 1947 wuchs die Zahl der Mitglieder der Gemeinde, verdoppelte sich die Anzahl der Schüler und der Taufbewerber. Neben seiner Tätigkeit als Missionar unterrichtete er auch Deutsch und Englisch an der Leyu-Mittelschule und Sun-Yat-sen-Universität.
Er gilt als Biblizist und betrachtete die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi als Kern seiner Theologie und zentrales Element der Heiligen Schrift. Während seiner Arbeit in China verfasste er mehrere Schriften, zum Beispiel 《禮拜儀式》(Liturgie des christlichen Gottesdienstes).
Am 15. März 1947 beendete er seinen China-Aufenthalt und zog zurück nach Baden-Württemberg, war zuletzt als Pfarrer in Kirchheim unter Teck. Er verstarb am 26. März 1983 und wurde auf dem Friedhof Weilheim an der Teck begraben. Auf seinem Grabstein steht Chinesisch: 耶稣基督:我就是生命 (Jesus Christus: Ich bin das Leben).
Basler Mission
Ohne Basler Mission wäre Georg Emil Autenrieth nicht in Meixian gewesen, und mein ehemaliger deutscher Lehrer Huang Yongfan hätte ihn auch nicht kennengelernt. Wenn Huang Yongfan mein deutscher (beim Erwerb deutscher Sprachkenntnisse) Vater ist, ist Georg Emil Autenrieth mein deutscher Großvater.
Im Umfeld der Handelsstadt Basel und des süddeutschen Pietismus wurde am 25. September 1815 die „Evangelische Missionsgesellschaft Basel“ (Basler Mission) als Tochtergesellschaft der Deutschen Christentumsgesellschaft von Christian Friedrich Spittler und Nikolaus von Brunn gegründet[2]. Die Basler Mission profitierte vom organisatorischen Talent und den internationalen Kontakten der Basler Handelsleute. Die württembergischen Pietisten stellten bis ins 20. Jahrhundert mehr als die Hälfte der Mitarbeitenden in Übersee und bis zum Zweiten Weltkrieg alle vollamtlichen Direktoren der Zentralstelle in Basel.
Ab 1816 wurden Seminaristen aufgenommen, die ab 1820 als Missionare tätig waren. Zuerst wollte man am Basler Seminar Missionare ausbilden, die dann für andere Missionsorganisationen in Übersee arbeiten sollten, wie zum Beispiel für die englische „Church Mission Society“. Schon bald wurde aber in Basel über ein eigenes Missionswerk nachgedacht.
Schon 1849 reisten die ersten China-Missionare der Basler Mission, Pfarrer Lechler und Pfarrer Hamberg, nach Hongkong aus. Sie arbeiteten dort vor allem mit den Hakka, einer südchinesischen Volksgruppe. Nach ersten Jahren in Honkong nahmen Basler Missionare auch in mehreren Bezirken der Provinz Guangdong ihre missionarische Tätigkeit auf. Sie gründeten nicht nur Kirchen, sondern auch Schulen, zum Beispiel die Leyu-Mittelschule (乐育中学), und Spitäler.
Im Jahre 1924 gründeten die Hakka die (崇真會)Tsung Tsin Mission, die mit der Basler Mission eng verbunden blieb, aber mit ihren eigenen Leuten im südchinesischen Raum missionierte. Offensichtlich mit viel Erfolg: Im Jahr 1948 gehörten zur Tsung Tsin Mission ca. 20.000 Mitglieder in 167 Kirchen.
Der Sieg der kommunistischen Revolution in China brachte große Veränderungen und ganz neue Fragen und Probleme für die Basler Mission mit sich. Vor allem führten sie zur Übertragung von Verantwortung auf die jungen unabhängigen Kirchen in neu unabhängigen Ländern.
1949 wurde die Volksrepublik China gegründet, die Verbindung zwischen Hongkong und Südchina wurde verboten. 1951 wurden alle Missionare von der kommunistischen Partei aus China ausgewiesen und zwischen 1966 und 1979 war in China jede öffentliche Religionsausübung untersagt.
Nachdem die Wiedereröffnung 1978 gestattet wurde, entstand 1980 der Chinesische Christenrat (CCC) als Dachverband der protestantischen Christen. Er war 1985 der Ansprechpartner für die Basler Mission, die zusammen mit der (基督教香港崇真會) Honkonger Tsung Tsin Mission beim Wiederaufbau der kirchlichen Strukturen in Südchina half. Heute wird die Chinesische Kirche bei der Ausbildung von Theologen und Laienpredigern unterstützt.
Basler Mission: der Auftrag Gottes, sein Reich in dieser Welt zu bezeugen; der Ruf Gottes an Menschen und Bewegungen, das Evangelium für ihre Zeit in rechter Weise umzusetzen.
Huang Yongfan
In den 1940er Jahren war der junge Huang Yongfan in der Leyu-Mittelschule ein Schüler des Pfarrers und Lehrers Georg Emil Autenrieth.
Die Leyu-Mittelschule wurde 1902 von der Basler Mission gegründet. Die Schüler lernen da Deutsch als die erste Fremdsprache. Unter den Alumni sind Persönlichkeiten, die später zu wichtigen Säulen des modernen Chinas wurden. Zhang Ruxin, Mitglied der Chinesischen Akademie der Wissenschaften oder Jiang Huancheng, Mitglied der Akademie der Ingenieurwissenschaften. Yang Taifang, Staatsminister für Post und Telekommunikation. Huang Yongfan, Professor an der Sun-Yat-sen-Universität.
Daniel Defoe: „Freundschaft fließt aus vielen Quellen, am reinsten aus dem Respekt.“ Ich habe Respekt vor Huang Yongfan, großen Respekt vor Georg Emil Autenrieth.
Was sagte der große Meister? Konfuzius: „一日为师,终身为父“( yī rì wéi shī,zhōng shēn wéi fù). Also, ein Lehrer für einen Tag ist wie ein Vater für die ganze Lebenszeit. Wer mich einen Tag lehrt, den respektiere ich das ganze Leben lang wie meinen Vater.
Im Konfuzius-Tempel in Beijing hängen viele Schrifttafeln mit Widmungen der Kaiser zum Andenken des Konfuzius als Ausdruck respektvoller Verehrung und großer Hochachtung gegenüber dem großen Pädagogen des alten Chinas.
Es ist eine lange Tradition in China, der Schulbildung große Bedeutung beizumessen und die Lehrer zu ehren. Von alters her nimmt die Erziehung in der chinesischen Nation einen bedeutenden Platz ein. Schon vor über 2600 Jahren sagte (管仲) Guan Zhong: Wenn man sich Gedanken für ein Jahr macht, sollte man Sorge tragen, das Getreide gut anzubauen; Wenn man für zehn Jahre plant, sollte man Sorge tragen, dass die Bäume gut gedeihen; Wenn man für 100 Jahre plant, muss man dafür sorgen, dass Menschen mit guten Eigenschaften herangebildet werden. In der Frühlings- und Herbstperiode gründete Konfuzius in seiner Heimatstadt eine eigene Schule und trat sich für die Idee ein, dass jeder, ob hoch oder niedrig, ob arm oder reich, das Recht auf Bildung habe.
Weil die Erziehung so hoch geschätzt wird, verfügen Intellektuelle in China bis heute über einen höheren Sozialstatus, und gebildete Menschen genießen viel Respekt. Respekt Lehrern gegenüber findet sich überall im Sozialleben Chinas. Man nennt sie beispielsweise (老师) „Laoshi“( „ehrenwerter Meister“ oder „Herr“ ) und erweist ihnen im täglichen Leben Respekt.
Huang Yongfan absolvierte die Leyu-Mittelschule, und dann studierte Germanistik an der Universität Nanjing. Zu den prominentesten Professoren der deutschen Fakultät zählt Zhang Weilian (张威廉, 1902-2004). Während seines Studiums in Nanjing hat er schon einen Artikel über das Buch „Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“ von Heinrich Mann in der Tageszeitung Wen Hui Bao (文汇报) in Shanghai veröffentlicht.
Es ist ein Roman über den Gymnasialprofessor Emanuel Raat, der fest an die bürgerlichen Werte seiner Zeit glaubt. „Nur Freundschaften und klassische Literatur sind das Wahre“, sagt er. Seine Schüler aber schimpfen ihn Unrat, schleichen sich zu Fräulein Rosa Fröhlich in den „Blauen Engel“, verachten, verhöhnen, verlachen des Professors brüchige Wertewelt. Der Professor zürnt, der Professor will Fräulein Fröhlich aus dem Blickfeld der Schüler räumen – und verfällt ihr. Himmelt sie an, steigt ihr nach, hält sie aus, heiratet sie. Der Professor stürzt, wird kriminell, verhaftet und verspottet. Der Einzelne sinkt, die doppelmoralische Bürgerwelt bleibt bestehen. Das ist Heinrich Manns böse Pointe: die alles und jeden erfassende Katastrophe findet nicht statt. Diese Pointe ist gestrichen. Statt dessen: Krieg. Die Bürgerwelt fällt, die Katastrophe tritt ein. Das Finale dieses Abends ist ein lautes Ausrufezeichen hinter ein raunendes Andeuten auf – ja welche Katastrophe wird hier eigentlich beschworen? Irgendeine dunkle Zukunft jedenfalls.
Vielleicht wegen dieses Artikels in der Weihui Bao wurde Huang Yongfan willkürlich als „rechts“ (“右派”) eingestuft. Die Anti-Rechts-Bewegung war eine landesweite „Säuberung“ der sogenannten „Rechten“, die Mao Zedong ab 1957 in der Volksrepublik China ins Leben gerufen hatte. Dabei wurden zwischen einer und zwei Millionen Menschen willkürlich als „rechts“ eingestuft und in zwei Schüben in Erziehungshaft gesteckt oder hingerichtet. Es wird angenommen, dass die Bewegung 1959 endete. Nach den Statistiken aus der Zeit von „Boluan Fanzheng“ wurden mindestens 550.000 Menschen als „Rechte“ eingestuft und verfolgt. Die meisten Opfer waren Intellektuelle und Mitglieder anderer politischer Parteien. Es wird geschätzt, dass insgesamt 1–2 Millionen Menschen verfolgt wurden, von denen viele aufs Land geschickt wurden oder „Laogai“ erhielten. Die genaue Anzahl der Todesfälle ist jedoch nicht bekannt.
Huang Yongfan hat sogar über 10 Jahre im Arbeitslager verbracht. Laogai (劳改, „Reform durch Arbeit“) ist ein System von Arbeitslagern in der Volksrepublik China. Die Laogais sind Arbeitslager, in welchen von Gerichten verurteilte Gefangene ihre Haftstrafe verbüßen.
Im chinesischen Rechtssystem gibt es zwei verschiedene Arten der Verurteilung. Ein Angeklagter kann entweder von einer Polizeibehörde mit Administrativhaft belegt oder von einem ordentlichen Gericht verurteilt werden. Häftlinge in der Administrativhaft verbüßen ihre Strafe in der Regel in Arbeitslagern mit dem Namen Laojiao („Umerziehung durch Arbeit“), die von ordentlichen Gerichten verurteilten Gefangenen verbüßen ihre Strafe in Arbeitslagern mit dem Namen Laogai („Reform durch Arbeit“).
Bundestag hat am 10. Mai 2007 chinesische Arbeitslager verurteilt. Trotz aller Einschüchterungsversuche aus Peking hat der Deutsche Bundestag das Laogai-System in China verurteilt. Laogais sind Arbeitslager ähnlich dem sowjetischen Gulag. Kriminelle, Dissidenten oder sonstige unliebsame Personen werden darin zu harter körperlicher Arbeit gezwungen. Das widerspricht allen Menschenrechtsstandards. In Deutschland verabschiedete der Bundestag eine Resolution, die das System verurteilt. Bis zuletzt hatte die chinesische Botschaft in Berlin versucht, die Resolution gegen das Laogai-System in China zu verhindern. Abgeordnete berichteten, China habe ihnen mit einer massiven Verschlechterung der deutsch-chinesischen Beziehungen gedroht. Aber der Bundestag ließ sich auch vom Hinweis der Chinesen nicht einschüchtern, dass ja bald die nächste Runde des Menschenrechtsdialogs zwischen Berlin und Peking anstehe. Alle Fraktionen außer der Linken stimmten der Resolution zu. Damit ist Deutschland nach den USA das zweite Land, das das Laogai-System verurteilt.
Aus dem Arbeitslager kam Huang Yongfan heraus und unterrichtete deutsche Literatur an der Sun-Yat-sen-Universität, natürlich auch „Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“ von Heinrich Mann. Er übersetzte Gesammelte Werke von Rosa Luxemburg und Marxistisches Wörterbuch der Philosophie von Alfred Kosing vom Deutschen ins Chinesische.
Nach meinem Germanistik-Studium pflege ich guten Kontakt mit ihm. Bevor ich nach Bamberg zum Studium kam, fragte ich ihn: „Huang Laoshi, neben Franz Kafka was soll ich noch lesen?“ Er riet mir Hannah Arendt und Karl Theodor Jaspers zu lesen. Ich befolge seinen Rat und diese beide prägen mich im Denken und Schreiben seit 35 Jahren.
1989 ist mein Sohn Edwar in Bamberg geboren. In meiner Studienzeit wohnte ich in der Habergasse. Ich ging auf die Universität und kam fast jeden Tag an der Kirche St. Martin vorbei. Pfarrer Hans Hübner war zweimal persönlich bei mir zu Hause und wollte Edwar katholisch taufen. Ich konnte mich nicht entscheiden und fragte bei Huang Yongfan um Rat. Er antworte: „Du darfst die Taufe nicht verweigern. Du sollst dem HERRN danken; denn er ist freundlich, denn seine Güte währet ewiglich.“ (Ps 136)
Also, Edwar ist in St. Martin aufgewachsen, war Ministrant, Pfadfinder, Sternsinger. Gott ist freundlich, denn seine Güte währet ewiglich.
Nach den Olympischen Sommerspielen 2008 in Peking war ein Telefonat, und das ist auch das letzte Telefonat zwischen ihm und mir.
You Xie: Ich ändere meinen politischen Fahrplan und komme nicht mehr nach China zurück. Ich will die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben und für immer in Deutschland bleiben. Ich will auch in die CSU eintreten.
Huang Yongfan: Als Christ musst du dich doch politisch engagieren und Verantwortung für deine Heimat tragen.
Quellenangaben:
[1] https://www.familienverband-autenrieth.de/mitglieder/
[2] http://www.baselmission.org/partnerschaften/asien/china/


Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.