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Sehnsucht

Bei einer Tasse Tee lese ich ein gutes Buch, das Buch meines Lebenslaufs. Meine Glieder sind mir rheumatisch gelähmt, meine Seele tief beschämt. Ich gehe durch stille Gassen rastlos hin, und trete in ein mir bekanntes Haus. Still, weltfern lebt hier nur sanfter Staub. An allen Wänden stehen Schränke. Ich will die Bücher sehen, ich öffne von den stillen Schränken einen. Ich lege mir mein Herz auf den Tisch, und es bricht auf, verstaubtes, altes Blut. Die Schränke an den Wänden stehen alle offen, vor mir dichte Reihen dunkler Herzen. Ich sehne mich, dort sitzt ein Mensch, gelb und einsam sieht er aus, Jahrhunderte allein. Er sieht mich wartend an mit leeren Augen.

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehen. Ich weiß nicht, ob ich ein kleines Kind, ein großer Junge, oder ein alter Mann bin. Lebenserinnerungen geben die Szenen, sie sind Schlüssel zu meiner subjektiven Biografie, sie sind gespeichert in den Tiefen meines Gedächtnispalasts. Ich habe viele solcher Schlüssel, die in die vielen Schlösser meines Palasts passen und die Türen zu meiner eigenen Identität öffnen. Wie der Tee, schmeckt manchmal süß, manchmal bitter.

Ich habe viele Gerüche gerochen in unserer Erdenküche. Ich habe Tee getrunken, habe Kuchen gegessen. Ein seidenes Hemd trage ich in meinem Haus.

Ich liege auf der grünen Wiese des Glücks. Die Sonne grüßt goldigsten Blicks. Sie duftet mir Träume ins Gehirn.

Ich habe dich wieder gesehen. Du hast rote Bausteine und grüne Dachziegel mit langer Tradition. Du hast in einem besonderen Charme, Wärme und Geborgenheit mein Haus zu meinem Heim gemacht. Ich konnte mir nicht vorstellen, in Kürze wirst du aus deinem Leben verschwinden. Mein Kummer wird nicht gestillt, mein Herz mit Schmerz erfüllt.

Ich stehe vor dir und kann deine tiefe Liebe spüren, aber die Kraft meiner Phantasie ist zu schwach die Zeit deines Lebens zu berechnen, wieviel Jahrhundert hast du gelebt?

Oben scheint die Sonne, in deinem Schatten sehe ich, dass du für mich leidest. Ich fühle meine Pein.

Du hast mich auferzogen, sowie meine Eltern. Schade, sehr schade, Materialismus und Habgier vernichten dich. Zivilkultur und Traditionen verfallen, das Herz der korrupten Kader und der geschäftssüchtigen Kaufleute wird durch ein scharfes Messer des Geldes in Stücke geschnitten. Ich kann nicht wegschauen. Geier und Raubvögel sehen dich als Beute, du wirst durch die absonderlichen Geräusche des Krans verdorben. Den Abriss beweine ich.

Wie lange lebst du schon? Sonne geht auf, Sonne geht nieder, und meine Seele wird immer leerer. So leer, dass ich deinen Schatten nicht aufnehmen kann. Warum gibst du mir keinen Schlüssel der Weisheit? Ah, wie dumm ich bin! Mein Schlüssel schon verrostet, und ich finde damit keine richtige Türe. Du verachtest mich, ich gebe zu, du hast das Recht. Mein Herz wird immer schwächer. Ich soll sterben, nicht du. Das Leben ist so, das Nehmen und das Geben, das Geben und das Nehmen. Ich bin so schwach, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu verstehen. Ich wünsche mir, dass ich in einen Stein verwandle. Du kannst mich aufnehmen und ich gehe mit dir den Weg.

Wirst du wirklich verschwinden? Du verstehst mich nicht. Wenn du nicht da, habe ich dann keine Orientierung, meine Geschwister haben keine Chance mehr zu hören, nämlich die Geschichte seit tausend Jahren.

Den Abriss beweine ich.

我哭了 – Ich weine

Ich bin zurückgekehrt. Du sprichst in deiner Sprache, mit ganz einfachen und unverschnörkelten Worten, erzählst mir die uralte Geschichte und Tradition, du lebst noch, sogar in einem guten Zustand. Du schilderst die Geschichte vor und nach meiner Abreise. Ich stehe vor dir, diese wertvollen Erinnerungen ziehen durch meine Seele. Du und ich führen gemeinsam ein herzliches Gespräch, und ich höre, was meine Ahnen und Geschwister erzählen, nämlich die Ereignisse seit meiner Abreise.
Ich weine, weil du wegen mir leidest. Ich weine, weil du meine Pein verstehst. Ich werde mich nicht immer an die Wunde erinnern und mein Herz wegwerfen auf den vereisten Boden. Weinen ist keine Gewohnheit, ist doch eine Schwäche. Lichtstrahlen können gebogen werden, aber nicht in die Tiefe meines Herzens dringen. Ich habe versprochen, dich mein Leben lang zu lieben, doch leider konnte ich der Versuchung nicht widerstehen. Aber du bist noch da und wartest auf mich. Im gelben Staub lächelst du, und ich stehe stumm und dumm vor dir.
Die Landschaft bleibt widerstrebend zurück, die Nacht schließt das Dorf ein, und ich reise mit dem Wind. Im Leben muss ich manchmal allein den Weg gehen. Ich habe viele Länder befahren, schöne Landschaften habe ich genug gesehen. Doch verstehe ich die Heimatmelodie noch immer nicht, warum bist du nie müde? In Einsamkeit versenkst du dich nicht, du hast immer die Hoffnung auf Licht. Heute Nacht wünsche ich mir keinen Traum, alles wird voller Erfüllung sein. Weinen, weil ich deine Schmerzen nicht vergessen will.
Du belebst mein Herz und verschönerst mein Antlitz. Ruhe hat eine andere Melodie. Ich bin nicht einsam, weil mein Herz jung bleibt. Liebe bis unter die Haut, die Gedanken immer noch bei Dir. Der Mond im Himmel, manchmal voll, manchmal halbvoll. Mein gelber Traum ist doch wie ein Vulkan, bricht aus.

Weinen, Tränen brechen aus.

 

Eine halbe Schüssel Reis

Zum 17. Juli des chinesischen Mondkalenders stelle ich eine halbe Schale Reis, Kerzen, frische Blumen und Reiswein auf. Links kommt der Fisch hin, in die Mitte stelle ich das das Huhn und rechts das Schweinefleisch. Ich entzünde ein Räucherstäbchen und schließe die Augen zum Gedenken und Gebet. Wie auf einem verschwommenen Foto taucht das Bild meiner Mutter vor meinen Augen auf.

Zuhause hatte schon mehrere Tage lang niemand mehr den Deckel eines Kochtopfes angehoben, als meine Mutter mich mit meinem kleinen Bruder zur Großmutter schickte, um von ihr Reis zu leihen. Meine Mutter war eigentlich jemand, der den Haushalt sehr gut führte. Nichts desto trotz, wer nichts hat, der kann auch nichts kochen. Ihre Reputation war meiner Mutter wichtig – sogar um etwas von ihren eigenen Mutter zu leihen, war sie nicht willens selbst zu gehen. Es wäre ihr vielleicht sogar zu schwer gefallen, dieses Thema anzuschneiden. Mein sehr kleiner Bruder und ich mussten über zwanzig chinesische Meilen (AdÜ: über zehn Kilometer) bis zum Haus unserer Großmutter zurücklegen. Unterwegs sagte mein kleiner Bruder, er sei sehr, sehr hungrig, und mein Magen war selbst zum Knurren noch zu schwach. Mein Bruder hörte nicht mehr auf, mich zu fragen, wie weit es denn noch bis zur Großmutter sei. Der Weg sei so weit, er sei kaum fähig mir zu helfen.
Revolution durch Produktion

In jenen Jahren war mein Großvater in Thailand und schickte meiner Großmutter und ihrem Bruder jedes Jahr Geld für den Lebensunterhalt. Damals galt ausländische Währung in China als Kostbarkeit. Die Auslandschinesen verdienten in fremder Währung und erhielten hierfür sogenannte Übersee-Überweisungsgutscheine. Die von ihnen Abhängigen oder ihre Verwandten konnten damit Nahrungsmittel oder andere Mangelgüter kaufen. Weißer Reis war ein knappes Gut.

Kurz bevor wir bei Großmutter ankamen, sahen wir an der Mauer einer Arbeitsbrigade ein Poster mit dem politischen Slogan, „Erfasse die Revolution, fördere die Produktion!“. Als ich dieses Poster erblickte, dachte ich, „sind unsere älteren Dorfbewohner denn nicht dabei, den Boden für die Landwirtschaft zu kultivieren?“. Es verwirrte mich, „warum haben diejenigen nichts zu essen, die den Reis pflanzen?“

Durcheinander und noch hungriger kamen wir schließlich bei Großmutter an. Ich sah den Reiskrug im Haus der Großmutter – damals war ich nur einen Kopf größer als der Krug hoch war – Oma hatte auch nicht mehr viel Reis, die Pampelmusenblätter darunter waren sichtbar. Großmutters Reiskrug war sehr schwarz und sehr glänzend. Sie hatte mir erzählt, dass es diesen Reiskrug schon gab, als sie als Fünfzehnjährige meinen Großvater heiratete. Der Reiskrug wurde schon sehr lange benutzt, fettig von dem Öl der Reiskörner und deswegen hell glänzend. In diesen Zeiten gab der Glanz des Reiskrugs Auskunft über den Wohlstand eines Haushalts. Die Landbewohner fürchteten, dass der Reis schimmeln könnte – Pampelmusenblätter auf den Grund des Reiskrugs zu legen, war allgemein eine Hilfsmittel der Landbevölkerung dagegen.
Die halbe Schüssel Reis

Geschäftig stellte Großmutter einen Topf mit kochend heißem Reisbrei auf den Tisch, wendete den Brei zunächst immer und immer wieder mit einem eisernen Löffel um und rührte ihn dann sehr sorgfältig, um ihn abzukühlen. Sie wusste, dass zwei kleine Kinder nach so einem langen Marsch nahezu am Verhungern waren. Mein Bruder und ich saßen uns am Tisch gegenüber und Oma stand in unserer Mitte. Sie rührte wortlos und betrachtete uns gleichzeitig. Im ganzen Haus war nur jenes Geräusch zu hören, wie der Reisbrei im Kochtopf umgerührt wurde. Mein Bruder und ich waren völlig ernst und fokussiert. Unser Blick war völlig absorbiert vom heißen Reis im Topf, der für uns Hungernden wie ein Magnetfeld war. Mein Bruder war stumm. Ich sah, wie er die Zähne zusammenpresste, seine Wangenmuskeln mahlten, der Speichel tropfte ihm langsam herunter. Ich sah seine Miene und seinen Blick ganz deutlich, das gierige Aussehen eines Hungernden.

Am nächsten Tag ging es nach Hause. Als ich dabei war, meine Mutter und meinen Brüdern jeweils eine flach gehäufte Schüssel Reis zu geben und wir gerade mit Essen beginnen wollten, kam eine Frau in mittleren Jahren zusammen mit einem Mädchen herein. Als ich sie sah, flüsterte ich herzlos, „unsere Familie ist schon selbst arm genug und trotzdem kommen sie noch zu uns zum Essen.“ Mutter und Tochter kamen zu uns und baten, ihnen zu essen zu geben. Meine Mutter schalt mich sofort, „lieber You, Du hast kein Gewissen. Wir sind so arm und sie kommen hier zu uns und sagen uns, dass ihr Leben noch schlimmer ist. Wir haben eine Mahlzeit und nun geben wir ihnen eine halbe Mahlzeit. Ich selber will nur eine halbe Schüssel Reis, das genügt.“ An diesen einen Satz meiner Mutter werde ich mich mein Leben lang erinnern. Ich erinnere mich auch noch an das strahlende Lächeln auf dem ganzen Gesicht von Tante und Cousine, nachdem sie zum Essen ins Haus gekommen waren. Danach unterhielten sich meine Tante und meine Mutter noch lange, erzählten von diesem und sprachen von jenem.
In den Hunger geboren

Meine Mutter hat ihr ganzes Leben lang viel geredet, ich habe das Meiste schon vergessen. Meine Mutter pflegte zu sagen, „nicht jeder, der sich anstrengt, kommt mit großer Ernte nach Hause, aber Ihr, meine Kinder, müsst Euch immer anstrengen.“ Diesen Satz habe ich bis heute in meinem Herzen bewahrt. Meine Mutter behandelte Menschen immer sehr gütig, sehr sanft, niemals verletzte sie die Gefühle anderer. Aber meine Mutter konnte manchmal auch sehr resolut sein, ohne jemanden dabei persönlich zu verletzen. Ich lernte von meine Mutter Ernsthaftigkeit und Verantwortung, lernte den Umgang mit Menschen, wie man anderen vergibt, wie man Rücksicht auf andere nimmt. Für das alles habe ich meiner liebevollen Mutter zu danken.

Unsere Generation von Chinesen wurde geboren und hungerte, wir gingen zur Schule und diese wurde geschlossen. Als Kinder erlebten wir Naturkatastrophen, oft litten wir Hunger. Das Jahr, als Tante und Cousine Essen von uns verlangten, war das düsterste und trostloseste Jahr in unser Gegend. Nahezu kein Getreide wurde geerntet, fast jede Familie hatte nichts zu essen. Die Familie von meiner Tante und Cousine aber wurde zu den engsten und besten Verwandten meiner Familie, nachdem sie während der Hungersnot unsere halbe Mahlzeit bekommen hatten. Nach meiner Jugend wurde das Leben etwas besser. Am Abend vor jedem Neujahrsfest gab meine Tante unserer Familie zwei große, wirklich große, fette, wirkliche fette Hühner. Auf dass wir ein vollkommenes Neujahrsfest feiern könnten.
Den Ahnen huldigen

Diese Tante und meine Mutter weilen schon lange nicht mehr unter uns. Wir sieben Geschwister gingen zur Universität und verließen die Heimat. Im Jahr 2000 besuchte uns meine jüngere Schwester in Deutschland und erzählte von dieser Cousine. Als mein älterer Bruder und meine jüngere Schwester am 29. Dezember 1998 die alte Heimat besuchten, um „den Ahnen zu huldigen“, erblickten sie plötzlich die Cousine, die ihnen in alter Weise zwei Hühner übergab. Sie sagte, in ihrer Erinnerung musste es an diesem Tag bestimmt jemand von uns Geschwistern geben, der nach Hause kommen würde, „um den Ahnen zu huldigen“. Sie fürchtete, weil wir nicht in der alten Heimat lebten, könnten wir keine Hühner für die Huldigung haben.