Wie deutsch ich bin
Johann Wolfgang von Goethe sagte: „Mit dem Wissen wächst der Zweifel.“ [1]
Ich sitze mit meinen schwarzen Haaren im Bamberger Stadtrat. Vom Hegelsaal aus schaue ich durch das Fenster nach draußen. Die Sonne scheint. In der Konzert- und Kongresshalle findet gerade die Sondervollsitzung „Bahnausbau“ statt. Die vollständigen Unterlagen als PDF stehen in der Allris-App, man liest, spricht, diskutiert, argumentiert, natürlich auf Deutsch. Plötzlich fällt mir etwas ein und frage ich mich: „Wie deutsch bin ich?“
Als ich Germanistik in Bamberg studierte, kamen mir deutsche Studienkollegen fremd vor. China war meine Heimat, weil ich da wie die Mehrheit der Bevölkerung aussah. Die Hautfarbe wird so sehr betont, dass Deutsche mit der Annahme aufgewachsen sind, dass das Deutschsein und asiatische, afrikanische oder arabische Gesichtszüge nicht zusammengehören. Meine biologischen Eltern waren chinesisch. Das sieht man auf den ersten Blick. Sie dachten chinesisch, sie zählten und rechneten chinesisch und ihre Werte waren konservativ-chinesisch. Ja, ich habe chinesische Erzeuger, die mir mein Aussehen verliehen haben.
Wie gut kenne ich meine Bamberger?
不患人之不己知,患不知人也。Konfuzius: „Nicht kümmere ich mich, dass die Menschen mich nicht kennen. Ich kümmere mich, dass ich die Menschen nicht kenne.“ [2]
Ich kann nicht sagen, dass alle in Bamberg lebenden Bamberger Musterbamberger sind. Deutschsein oder Bambergsein ist für mich in erster Linie eine Geisteshaltung, eine Gemütsverfassung. Die alte Bischofsstadt an der Regnitz in einzigartiger Weise des Typs der frühmittelalterlichen Grundstruktur, die Auseinandersetzung mit der Hexenverfolgung, aber auch die Vielfalt der europäischen Kunst. So mag man sich auf den sieben Hügeln der 1000-jährigen Stadt in einem neuen Rom glauben, in den Skulpturen des Domes die französische Kathedralplastik wiederfinden, mit Blick auf die Fischersiedlung entlang der Regnitz von Venedig träumen, oder an den barocken Fassaden alter Bürgerbauten und Stadtpalais die Baukunst Böhmens und Italiens nacherleben. Bamberg ist ein Stadtensemble höchster Rarität, das sich immer wieder neu entdecken lässt. Als Besonderheit der Bamberger Bierkultur darf bis heute der Trinkgenuss „auf den Kellern“ gelten. Weinkultur kann man aber auch auf andere Art erleben. So wird altes Brauchtum z.B. in der Urbani-Prozession tradiert. Und Storath Pralinen gelten als die leckersten Pralinen Bambergs.
Ist Herkunft gleich Heimat gleich Identität? Darüber kann man debattieren. Der Begriff Heimat in vielerlei Hinsicht relevanter als jemals zuvor: Viele Menschen, nach dem Krieg aus ihrem Land vertrieben, finden in Bamberg eine neue Heimat. Andere fühlen sich durch Veränderungen, egal ob durch moderne Architektur, digitale Innovation oder anders aussehende Menschen, verunsichert und hängen an einem nostalgischen Konzept von Heimat. Ich empfinde zu der Stadt Bamberg, in der ich lebe eine emotionale Verbundenheit, die über die Bindung zu den Menschen, die in ihr leben, hinausgeht. Bamberg ist meine Heimat.
Ich gehe zu Fuß weiter, die Schönheit der Gebäude und dann Sehnsuchtsmomente. Zugleich das Empfinden, dieser Stadt, dieser Zeit entwachsen zu sein, weil ich nicht mehr das damalige Ich bin, weil diese Stadt nicht mehr die Stadt von damals ist, mit ihren Menschen, ihren Beziehungen, ihren Wegen, ihren Gebäuden.
Meine Heimat wandelt sich ununterbrochen, vielleicht ist das einzig Beständige, dass es Orte und Begegnungen sind, die mir nicht allein nützen, sondern in denen immer wieder von Neuem Vertrauen und Vertrautheit möglich wird.
Ich stellte fest, dass ich an der Sun-Yat-sen-Universität durchs Sprechen auf Deutsch den Übersetzungsprozess im Kopf überwunden hatte. Das heißt, dass ich meine Gedanken nicht mehr vom Chinesischen ins Deutsche übertragen musste, bevor ich den Mund aufmachte. Ich sprach nicht mehr wie jemand, der ständig auf der Suche nach einem passenden Wort war, sondern eher wie jemand, bei dem die Wörter in Reih und Glied stehen und sich je nach Bedarf von alleine formieren.
Deutschland ist in der Hinsicht von Musik und Philosophie nach meiner Auffassung das stärkste Land der Welt. Es sind große Persönlichkeiten wie Beethoven und Mozart, Kant und Weber oder Goethe und Schiller. Je mehr ich lerne, desto unruhiger werde ich.
Was sagte Goethe noch mal? Johann Wolfgang von Goethe: „Zuwachs an Kenntnis ist Zuwachs an Unruhe.“ [3]
Bassd Scho!
Quellenangabe:
[1] Goethe, Maximen und Reflexionen. Aphorismen und Aufzeichnungen. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs hg. von Max Hecker, 1907. Aus Kunst und Altertum, 5. Bandes 3. Heft, 1826. Einzelnes
[2] Kungfutse: Lun Yu. Gespräche. Düsseldorf/Köln 1975, S. 41-42.
[3] Goethe, J. W., Autobiographisches. Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, 1808–1831, 2. Teil, 8. Buch