Frag nicht, was deine neue Heimat für dich tun kann
Von Maximilian Kalkhof (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
http://archive.li/0bvG3#selection-1385.0-1633.578
CSU-Politiker You Xie Frag nicht, was deine neue Heimat für dich tun kann
06.07.2013 · You Xie, 55, besitzt einen China-Imbiss in Bamberg. Außerdem ist Xie: preisgekrönter Journalist, einflussreicher Intellektueller und Dissident. Und, am überraschendsten: Xie ist ein kleiner Star in der CSU. „Sehr ausländerfreundlich“ findet er seine Partei.
Der Bamberger Bürgermeister Werner Hipelius, ein Mann der CSU, redet von ihm, als gehöre er schon immer dazu. Er sei ein Leistungsträger, in den man große Hoffnungen setze. Dann – gewissermaßen als Höhepunkt der Lobeshymne – ballt Hipelius die linke Faust und schwärmt: „Der You ist ein Wertkonservativer, ein echter Schwarzer.“
Wer bei diesen Worten an bayrische Nachwuchspolitiker aus alteingesessenen Familien denkt, der irrt. Vielmehr gilt das Loblied des Kulturreferenten Hipelius einem fünfundfünfzigjährigen Chinesen, der erst seit drei Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt. You Xie ist Gastronom und Besitzer des in Bamberg legendären „China Fan Imbiss“. Außerdem ist Xie preisgekrönter Journalist, einflussreicher Intellektueller, Schriftsteller und Dissident. Seit neuestem aber ist er, der auch Mitglied des CSU-Kreisvorstands ist, für die Partei in Bamberg ein Star, nicht ganz unähnlich dem einst aufstrebenden Karl-Theodor zu Guttenberg.
Politische Willkür und Zufall bringen Xie nach Bamberg
„Einmal gebratenen Reis mit Rindfleisch“, ruft Xie seinem Koch auf Chinesisch vom Erdgeschoss über die Treppe in den ersten Stock zu. Die Küche seines Imbisses liegt in der ersten Etage; Rapsölkanister säumen den Treppenaufgang. Der Imbissbesitzer trägt eine randlose Brille und eine schwarze chinesische Jacke, die samtig glänzt. Beim Kassieren verbeugt Xie sich tief.
Auf seiner Facebook-Seite schreibt er Sätze wie: „Bamberg, meine neue Heimat, die beste Stadt der Welt.“ Oder: „Konfuzius sagt: Bierkeller in Bamberg am besten!“ Dabei ist es eine Mischung aus politischer Willkür und Zufall, die den Chinesen von der Tropeninsel Hainan ins oberfränkische Bamberg spülte. Als Xie acht Jahre alt ist, ruft Mao Tse-Tung in China die „Große Proletarische Kulturrevolution“ aus. Die Roten Garden zerren Xies Vater, Anhänger des Mao-Gegners Tschiang Kai-shek, ins Gefängnis. Xies Mutter hält den Terror nicht aus. „Sie hat sehr gelitten“, sagt Xie mit gesenktem Kopf. Schließlich bringt sie sich um. Einen Moment hält Xie im Erzählen inne.
Nach Maos Tod läutet Deng Xiaoping die Reform- und Öffnungspolitik ein. Die Kommunistische Partei verordnet Xie das Studienfach Deutsch. Nach dem Studium zieht der frischgebackene Absolvent nach Schanghai. In den großen Städten an der Ostküste ist die Aufbruchstimmung mit Händen zu greifen, überall sucht man junge Leute mit Fremdsprachenkenntnissen. Xie heuert als Dolmetscher bei VW an.
Doch er fühlt sich nicht wohl in China und möchte weg. Wegen seines Studiums fällt die Wahl auf Deutschland. Und da ihm die Universität Bamberg am schnellsten die Zulassung zum Germanistikstudium schickt und er in einer Broschüre liest, dass es in Bamberg vergleichsweise einfach sei, eine Wohnung zu finden, steigt er 1988 – nach einer Odyssee durch China, die ehemalige Sowjetunion und die DDR – in Bamberg aus dem Zug.
Ein kleines Stück Zeitungsgeschichte
„President“ prangt auf der Tür des Zimmers im zweiten Stock. Xies Redaktionsraum kommt mit einem Computer, einem Telefon und einem Faxgerät aus. In diesen zehn Quadratmetern hat Xie ein kleines Stück Zeitungsgeschichte geschrieben. 1999 gründet der leidenschaftliche Schreiber das einzige chinesischsprachige Monatsmagazin Deutschlands. Die „European Chinese News“ sind ein Nachrichtenmagazin, in dessen 115. Ausgabe Xie zum Beispiel unter Rückgriff auf den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch erklärt, wieso die Verhaftung des Dissidenten Liu Xiaobos unrecht sei. Auch sind die „European Chinese News“ ein Ratgeber, in dem Xie Fragen chinesischer Leser beantwortet, etwa: „Muss mein Sohn wirklich keinen Wehrdienst leisten?“
Titelblatt des chinesischen Nachrichtenmagazins European Chinese News © Wohlfahrt, Rainer
Das Titelblatt des chinesischen Nachrichtenmagazins „European Chinese News“ zur Fußball WM in Deutschland
Viele Chinesen seien schon lange in Deutschland und als Gastronomen oder Geschäftsleute erfolgreich, sagt Xie. Dennoch lebten nicht wenige in Isolation: „Sie setzen sich nicht genug mit Sprache und Kultur auseinander.“ Durch die „European Chinese News“ ist Xie vielen seiner Landsleute als eine Art schreibender Integrationsbeauftragter bekannt.
Doch auch an Xie ist die Zeitungskrise nicht spurlos vorübergegangen. Nachdem ihm Leser und Anzeigen abhanden kamen, musste er die „European Chinese News“, die immerhin auf eine Auflage von 18 ooo Exemplaren kam, 2011 einstellen. Sein Traum, einmal als Chefredakteur einer freien chinesischen Tageszeitung zu schreiben, hat daran keinen Schaden genommen.
Vorbereiten auf den großen Tag seiner Rückkehr nach China
„Ich werde den Wunsch nie aufgeben, in China eine eigene Zeitung zu gründen“, sagt Xie beim Mittagessen. Ab zwölf Uhr strömen Arbeiter zu ihm in den Imbiss, zwischen 13 und 14 Uhr überwiegend Schulkinder. Nach 14 Uhr, wenn der Strom der Kundschaft abebbt, setzen sich Xie und seine Frau zum Mittagessen in ihren Imbiss. Es gibt keine Kartengerichte, sondern eigene Kost, Spinat, Rindfleisch mit Zucchinistreifen, dazu Reis. „Die Deutschen essen nur, was sie kennen“, erwidert Xies Frau, Zhang Schenhua, auf die Frage eines Gastes, warum so etwas nicht auf der Speisekarte stehe.
Die „European Chinese News“ seien Training gewesen, sagt Xie, Vorbereitung auf den großen Tag seiner Rückkehr nach China. Deswegen schreibt Xie, was das Zeug hält. Für taiwanische Zeitungen verfasst er regelmäßig Kommentare und Kolumnen, 1994 erhielt er deswegen einen renommierten taiwanischen Journalistenpreis. Da er in seinen Artikeln früher als andere auf die Probleme chinesischer Wanderarbeiter hingewiesen hat, wählte ihn die namhafte chinesische Wochenzeitung „Südliches Wochenende“ 2010 auf ihre Liste der hundert einflussreichsten öffentlichen Intellektuellen Chinas – eine Liste, die der Künstler und Dissident Ai Weiwei seit 2008 anführt. Und als wäre das alles nicht genug, schreibt Xie auch noch Essays, Kurzgeschichten und Reiseberichte; ein deutsches und sieben chinesische Bücher hat er bereits veröffentlicht. Dabei weiß Xie, dass es ein frommer Wunsch ist, in China zum Chefredakteur aufzusteigen: Seit 1989 untersagt ihm das Regime die Einreise.
„Vielleicht folgt auf Xi Jinping der chinesische Gorbatschow“
„Ich verkaufe mich nicht“, sagt der Exilant zu den Versuchen der Kommunistischen Partei, ihn zu bekehren. Als im Juni 1989 Panzer die chinesische Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens niederwalzen, veröffentlicht Xie als Bundesvorsitzender des Verbandes der chinesischen Studenten und Wissenschaftler Chinakritische Artikel. Für die Kommunisten ist er seither Persona non grata. Als 1992 sein Pass ausläuft, gewährt man ihm keine Verlängerung. Er nimmt die Staatsangehörigkeit der Republik China auf Taiwan an; seit 2010 ist Xie deutscher Staatsbürger. Zweimal spricht er Mitarbeiter der chinesischen Botschaft an und bittet darum, wieder nach China reisen zu dürfen. Beide Male habe man ihn aufgefordert, einen Reuebrief aufzusetzen, sagt Xie. Hoffnung auf Reformen in China unter dem neuen Staatspräsidenten Xi Jinping macht er sich nicht, sagt Xie. Aber: „Vielleicht folgt auf Xi Jinping der chinesische Gorbatschow.“
Da die Zeichen für eine Rückkehr nach China schlecht stehen, hat sich der Tausendsassa in Bamberg eingenistet. Inzwischen ist er Herausgeber des „Overseas Campus“, eines chinesischsprachigen Magazins, das seinen Sitz in den Vereinigten Staaten hat, den Zeitgeist aus christlicher Warte betrachtet und in Deutschland in einer Auflage von 12 000 Exemplaren erscheint. Zudem trat er 2012 ausgerechnet der Partei bei, die in Sachen Integration nicht gerade für sanfte Töne bekannt ist, sondern deren Vorsitzender schon mal poltert, die deutschen Sozialsysteme „bis zur letzten Patrone“ gegen Zuwanderung verteidigen zu wollen.
Xie ist ein leidenschaftlicher Konservativer
„Ich finde die CSU sehr ausländerfreundlich“, sagt Xie. Gegen Horst Seehofer und dessen verbale Entgleisungen hat er nichts einzuwenden. Bamberg habe ihm das Leben immer sehr einfach gemacht. Und überhaupt: Was er an der CSU und an Bamberg schätze, das sei eben die konservative Kultur.
Tatsächlich ist Xie so leidenschaftlich konservativ, wie man es nur selten sieht. Als das Bundesverfassungsgericht die Ausweitung des Ehegattensplittings auf Homo-Ehen anordnet, postet Xie auf Facebook: „Kein Kommentar.“ Eine Familie bestehe für ihn aus Vater, Mutter und Kind, Punkt. „Ich bin froh, dass die CSU die steuerliche Gleichstellung der Homo-Ehe ablehnt“, erklärt er auf Nachfrage. Und was ist zum Beispiel mit dem Betreuungsgeld? Natürlich sei er dafür: „Ich bin begeistert, wenn Mütter, die ihre Kinder zu Hause erziehen, auch etwas dafür bekommen.“
Abends um halb acht sitzt Xie im Konferenzsaal des Hotels „Alt Ringlein“ inmitten der Bamberger Altstadt. An den Wänden hängen Landschaftsmalereien, in der Ecke steht eine Marienfigur. Der Kreisvorsitzende und Stadtrat Christian Lange eröffnet vor rund zwanzig Kommunalpolitikern die Kreisvorstandssitzung der CSU; es geht um das abgesagte Altstadtfest der Universität und darum, dass die CSU in sozialen Netzwerken schneller werden müsse.
2014 will Xie in den Stadtrat einziehen
Im April 2013 haben die Mitglieder der Bamberger CSU Xie in den Kreisvorstand gewählt. Er erhält 141 von 220 Stimmen. Damit fährt er das beste Wahlergebnis aller Kreisvorstandsmitglieder ein. Doch schon plant Xie seinen nächsten Coup: Im März 2014 möchte er für den Stadtrat kandidieren.
Hört man sich im CSU-Kreisvorstand um, bekommt man den Eindruck, der Stadtrat könne nicht ohne ihn und Xies Wahlsieg sei schon entschiedene Sache. „Der You ist ein Publikumsliebling“, sagt einer. Durch seinen Imbiss sei der Chinese stadtweit bekannt. „Wir hoffen, durch den You auch unter den Protestanten Fuß zu fassen“, sagt ein anderer. Er sei mit leeren Händen nach Bamberg gekommen und wolle nun etwas zurückgeben, sagt Xie. Und dann zitiert er – in seiner eigenen Version – den Archetyp des charismatischen amerikanischen Präsidenten, John F. Kennedy: „Frage nicht, was deine neue Heimat für dich tun kann, sondern was du für deine neue Heimat tun kannst.“
Wie der katholische Kennedy in Amerika ist der evangelische Xie im katholischen Bamberg ein religiöser Außenseiter. Schon in China hat der Sohn taoistischer Eltern die Bibel gelesen, in Bamberg schließt er sich der evangelischen Gemeinde Sankt Stephan an, 2010 lässt er sich taufen. „Taoismus und Konfuzianismus blicken nach innen“, sagt der Konvertit. Das Christentum hingegen betone die soziale Verantwortung jedes Einzelnen.
Zwei Tagesstunden widmet Xie seinem Kreisvorstands-Amt. Er liest die Lokalpresse, wälzt Bamberger Geschichte, denkt über das deutsche Beamtentum und den Pflegenotstand nach. Überhaupt ist er ein aufmerksamer Beobachter, der sieht, wie politische Entscheidungen im Alltag ankommen. „Ich hasse Unterrichtsausfälle“, sagt Xie. Sein China-Imbiss sei ein Barometer für den Unterrichtsausfall in der Stadt. Morgens um neun, wenn er eigentlich noch am Vorbereiten ist, sperrt Xie die Tür seines Imbisses auf. Oft stünden dann schon Schulkinder vor der Tür und fragten nach Peking-Ente.